„Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert.“zurück
Redebeitrag unserer SchülerInnen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2018 in Neu-Ulm
Am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, dem 27.01., findet jedes Jahr eine Gedenkfeier der Stadt Neu-Ulm statt.
Neben Oberbürgermeister Gerald Noerenberg leisteten auch Jonathan Borst, Pauline Seidel, Adelina Denzel und Melanie Wolf, alle Q11, einen Beitrag zu aktiver Erinnerungskultur.
JONATHAN:
Bertha Max Betty Daniel Sofie Jakob Regina Alfred
Dies sind zwar nur wenig Namen der 20 Millionen Opfern, welche in 30.000 Arbeitslagern, 1150 Ghettos, 950 Konzentrationslagern und 1000 Kriegsgefangenenlagern während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft umkamen, doch trotzdem haben wir zu genau diesen eine besondere Beziehung. Sie waren oder viel mehr sind ein Teil der Geschichte der Stadt Neu-Ulm. Diese Bürgerinnen und Bürger waren Leute wie sie und ich und wurden aus unserer Mitte aus der Gesellschaft gerissen und zu Opfern des Rassenwahns und der Gleichmacherei der Volksgemeinschaft gemacht. Unter ihnen waren Juden, Sinti und Roma, sogenannte „Erbkranke“, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und rebellierende Jugendliche. Für die Nazis mit ihrem extremen Rassenwahn Grund genug diese Menschen aus der Mitte unseres Landes zu reißen, ihre Würde auf brutalste Weise nicht nur anzufassen, sondern auch mit Füßen zu treten, um sie ihnen schließlich ganz zu rauben.
Bei der Recherche nach den Schicksalen von Neu-Ulmer Opfern des NS-Regimes, bin ich jedoch auch auf mutige Männer und Frauen gestoßen, die geholfen haben. Da war der Anwalt Leopold Hirsch, der wieder und wieder Proteste gegen die Deportation eines Freundes einlegte, die Hausfrau Frieda Wutz, die selbst gehäkelte Wintersocken verschenkte oder andere Neu-Ulmer, die Juden kostenlos Wohnungen überließen.
Diese Taten mutiger Neu-Ulmer haben mich nachdenklich gemacht. Diese inspirierenden Menschen haben sich in einer grausamen Diktatur Gefahren ausgesetzt, um anderen Mitmenschen zu helfen. Wieso haben das eigentlich nicht mehr Menschen damals gemacht, besonders zu Zeiten, als der Terror noch nicht so ausgeprägt war?
PAULINE
P: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
A: Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
M: Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
P: Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Dies ist ein selbstkritisches Zitat des evangelischen Theologen Martin Niemöller. Er hat zwar erst spät, aber dann doch Widerstand geleistet. Es zeigt, dass viele Mitbürger auch Leid erfahren mussten, da Menschen wie Sie und ich nicht eingeschritten sind, sondern geschwiegen haben. Es lehrt uns deutlich:
Wir dürfen nicht schweigen. Wir dürfen nicht vergessen. Wir sollten Parallelen erkennen zwischen dem, was damals passiert ist und dem, was heute geschieht. So wie die Minderheit der Juden damals als Sündenböcke für jedweden Missstand herhalten mussten, so werden auch heute noch oder sollte ich sagen wieder? – pauschal ganze Menschengruppen, allesamt Minderheiten, benutzt und zu Opfern gemacht. In Zeiten von AfD, Pegida und Terrorismus wird oft Flüchtlingen die Schuld für Arbeitslosigkeit und Verbrechen gegeben, wieder werden Minderheiten zu einer Projektionsfläche für Angst und Verunsicherung. Hassreden, fremdenfeindliche Übergriffe und Gewaltverbrechen sind die Folge.
ADELINA
Und dann liest man die Aussage des AfD-Politikers Björn Höcke: Zitat:
„Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß‘ Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.“
Was sagt er da? Er sagt entweder: „Seien wir stolz auf den Holocaust!“ oder er sagt: „Lasst uns den Holocaust vergessen!“. Sollten wir ihn vergessen? Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat eine interessante Beobachtung zu diesem Vergessen gemacht: Ich zitiere: „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Beaudrillard fordert also dazu auf, dass wir uns mit dem Holocausts auseinanderzusetzen und uns an die Opfer zu erinnern. Ansonsten werden wir selbst Teil der Vernichtung. Eine Wende um180 Grad? Nein, nicht mit uns, Herr Höcke.
MELANIE
Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass es immerhin knapp sechs Millionen Menschen in Deutschland gibt, die bei der Bundestagswahl 2017 ihre Zweitstimme der AfD gaben, wodurch nun 94 Abgeordnete dieser Partei, die zumindest in Ansätzen rechtsextrem ist, in unserem Bundestag sitzen. In unseren europäischen Nachbarstaaten, wie beispielsweise Österreich und den Niederlanden erhalten ebenfalls immer mehr rechte Kräfte Einzug in das politische Leben. Das Bedürfnis ihrer Wähler nach starker Führung ist legitim. Ihre Bereitschaft, Minderheiten ihre Menschenwürde abzusprechen, ist es nicht. Nur allzu bereitwillig glauben sie den einfachen Antworten und legen die Axt an das Fundament unserer Gesellschaft, den Respekt vor der Menschenwürde. Es gilt, die Sorgen dieser Menschen ernst zu nehmen und Missstände abzustellen. Es gilt aber auch, sie zurück auf das Fundament unserer freiheitlichen Gesellschaft zu führen. Nicht zu schweigen, bei menschenverachtenden Witzen, hetzerischen Kommentaren oder verbreiteten Fake-News, sondern zu widersprechen, zu hinterfragen, zu streiten.
JONATHAN
Meine Damen und Herren,
Genau dafür haben wir uns heute versammelt. Wir möchten alle gemeinsam den Opfern der Tyrannenherrschaft des Nationalsozialismus gedenken, ihren Familien und Freunden unser tiefstes Mitleid aussprechen. Die Gräueltaten, die ihnen widerfahren sind, kann man damit in keinster Weise wieder gut machen. Jedoch schenken wir dadurch jedem, der in dieser Zeit gelitten hat unseren tiefsten Respekt. Und wir anerkennen unsere Aufgabe in der Gegenwart das Fundament für eine friedliche Zukunft zu sichern, in der nicht die gleichen, oder ähnlich furchtbare Fehler gemacht werden. Und so schließe ich diese Rede mit einem alten jüdischen Sprichwort:
„Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert.“